Dies ist eine leicht modifizierte Fassung eines E-Mail-Leserbriefes, den ich vor ein paar Jahren an das magazin.klassic.com geschrieben habe. Er ist eine Reaktion auf die dort veröffentlichte Rezension des Films „Die Befreiung des Klangs“, in welchem die Sängerin und Gesangslehrerin Verena, ihre Technik vorstellt. Ich habe die Rezension zum Anlass genommen, die Gesangstechnik von Frau Rein zu erläutern.
Es ist sehr bedauerlich, dass der Autor seiner im ganzen positiven Kritik der DVD „Die Befreiung des Klangs – neue Wege im klassischen Gesang“ einen Absatz anfügt, in dem er das „konservative Sängerbild“ beklagt, das angeblich hinter der von Verena Rein entwickelten und vermittelten Gesangstechnik stehe. Letztere beruhe nach Ansicht des Autors auf einer „sehr engen ästhetischen Fixierung“. Was wäre aber das Gegenteil? Eine weite ästhetische Fixierung? Eine weite unästhetische Fixierung?
Diese Kritik hat mit der Praxis des klassischen Gesangs nichts zu tun; ihrer Logik zufolge müsste man sich erst eine Ästhetik zurechtknobeln, bevor man Kunst machen darf. Sängerbild, Menschenbild, Tierbild, Fußballbild – wen interessiert das? Soll der Sänger während seines Vortrags denken: Eigentlich bin ich heute gut in Form, aber leider hängt mein Sängerbild schief? Auf den naheliegenden Gedanken, dass beim Gesang eine vermeintlich enge Ästhetik einer engen Kehle deutlich vorzuziehen ist, kommt der Kritiker nicht.
Eine Gesangstechnik dient dem Zweck, ein Instrument zu erlernen. Beherrscht man die Technik, kann man singen, d. h. man hat gelernt, mit seinem Instrument umzugehen. Wohlgemerkt: singen! Nicht knödeln, quetschen, drücken, stemmen, schreien. Darauf ist der Titel „Die Befreiung des Klangs“ bezogen; andernfalls hätte der Film „Die Befreiung des Krachs“ heißen müssen. Um singen zu können, bedarf es einer vollkommen freien Tonemission, die es ermöglicht, das Stimminstrument in jeder Hinsicht flexibel zu nutzen. Die Kunst des Gesangs fängt erst da an, wo die Stimme souverän geführt und nicht mehr von technischen Mängeln beeinträchtigt wird. Wer diese Kunst erlernen will, der schaue sich „Die Befreiung des Klangs“ an.
Perfektes Legato, bruchloses Messa di voce, möglichst große Beweglichkeit der Stimme sind unabdingbare Voraussetzungen für die Kunst des klassischen Gesangs. Es handelt sich hierbei um technische Fähigkeiten, die man gemeinhin mit dem Begriff „Belcanto“ bezeichnet. Nur durch sie ist der Sänger/die Sängerin in der Lage, einen Ton im Dienste des künstlerischen Ausdrucks auch zum „Hässlichen“ hin einzufärben – und zwar mit gesanglichen Mitteln. Dies gilt für das gesamte Repertoire bis zur neuesten Moderne –, es sei denn, in den betreffenden Werken sind der Schrei, das Aspirieren, der unvermittelte Naturlaut u. ä. konstitutive Momente der Partitur. Jeder Sänger muss dann im Einzelfall entscheiden, ob er sich dem gewachsen fühlt. Tendenziell hat man aber auch in solchen Fällen die besten Chancen, nicht als Stimmruine zu enden, wenn man das als Belcanto Bezeichnete in hohem Maße beherrscht.
Schon Adorno beklagte, dass die „Spezialisten“ für Neue Musik, namentlich die Sänger, keineswegs immer die besten der Zunft seien, sondern allzu oft jene, die aus ihrer Not eine Tugend machen. Dabei, so Adorno weiter, müsste es gerade umgekehrt sein. Denn das „Hässliche“ im Gesangsvortrag, die bestimmte Negation des Schönen, soll ja künstlerischer Ausdruck bleiben und hat seine utopische Wirkung nur, wenn es sich in einem Spannungsverhältnis zu den belcantistischen Fähigkeiten des Sängers befindet. Ähnliches gilt übrigens auch für die Interpretation von Barockmusik. Die „Klangrede“ ist nur dann wirklich sprechend, wenn sie Gesang bleibt; wenn also z. B. das Non-Legato auf der souveränen Beherrschung des Legatos beruht. Leider ist die Reduktion in diesem Bereich fast immer Ausdruck des Mangels und nicht des Überflusses.
Die Tatsache, dass man z.B. eine Violine auch perkussiv nutzen kann; dass sich ihre Saiten möglicherweise zum Zerschneiden hartgekochter Eier eignen und ihr Korpus zur Not auch als Paddel für ein Kanu taugt, kann niemals Grundlage der Spieltechnik werden. Auch ein Pierre-Laurent Aimard oder David Tudor haben ihr Klavierspiel nicht erlernt, indem sie zunächst ein paar Jahre lang mit den Füßen auf die Tastatur eintraten. Wer also ein Instrument lernen will, wird nicht weit kommen, wenn er seine Lektionen mit Trommeln, Eierschneiden und Paddeln beginnt. Das Instrument geht dann schnell kaputt, und es muss ein neues her. Leider kann man eine kaputte Stimme schlecht reparieren, und eine neue kaufen kann man sich schon gar nicht. Wer „ästhetische“ Kritik an einer Gesangstechnik übt, müsste sich konsequenterweise auch über die Tonalität von Czerny-Etüden beschweren.
„Die Befreiung des Klanges“ ist in der jüngeren Geschichte des Gesangsunterrichts ein echter Glücksfall. Gesangsstudenten und im Doppelsinn „fertige“ Sänger, welche die Hochschule mit Diplom und Stimmbandödemen verlassen, können aufatmen. Endlich gibt es eine Gesangstechnik, die jedermann klar nachvollziehen kann und deren Anwendung von Anfang an überzeugend ist. Endlich wird man verschont von pseudowissenschaftlichen anatomischen Exkursen, von esoterischem Geraune oder enervierenden Körperübungen, die in keinem Zusammenhang mit dem Gesang stehen; endlich ist man erlöst von all den Lehrern (auch jenen mit großem Namen), die selber nicht wissen, was sie tun, und daher auch nicht vermitteln können, wie das Singen funktioniert.
Was Verena Rein im Anschluss an die Studien des Sängers und Mediziners Peter Gougaloff entwickelt hat, kommt natürlich nicht aus dem Nichts, sondern knüpft an eine alte Gesangstradition (Belcanto) an. Dennoch ist die Methode nicht „konservativ“, sondern besonders innovativ:
Inhaltlich wäre zunächst der überfällige Bruch mit dem unsinnigen Dogma zu nennen, wonach sich die Zunge im Mund des Sängers verhalten müsse wie die Flunder am Grunde der Nordsee. Die Leistung von Peter Gougaloff und Verena Rein besteht nicht darin, dieses Dogma bloß zu ignorieren, sondern vielmehr darin, der Zunge eine konstitutive Rolle bei der Gestaltung des Gesangs zuzuweisen.
Das gänzlich Neue an dem von Gougaloff/Rein entwickelten Ansatz ist aber die Verschmelzung von Zungentechnik und Phonetik. Hierbei wird vom locker gewölbten Zungenrücken als Grundstellung ausgegangen, welche zugleich Ausgangsposition des sogenannten Urvokals („Schwa“) ist. Der Urvokal bildet wiederum den klanglichen Kern aller Vokale. Im Gesang führt die durch präzise Bewegung der Zunge herbeigeführte Grundierung der Vokale mit dem „Schwa“ notwendig zur optimalen Klangfülle und Tragfähigkeit des Tons. Da der Ton sofort mit seinem gesamten Entfaltungsspektrum zur Verfügung steht, kommt der Gesangsvortrag ohne Druck und Nachdrücken aus. Legato und Beweglichkeit ergeben sich dann wie von selbst. Auch dynamisch und farblich ist größte Flexibilität möglich.
Die vorherrschende Technik der Flunderzunge hat hingegen zur Folge, dass der Mund weit aufgerissen und der Ton nach der Methode „Ohren zu und durch“ herausgepresst werden muss. Überall sieht man die zu Fratzen erstarrten Gesichter der Sänger/-innen, die sich mit weit aufgerissenen Kiefern, geweiteten Augen, Stirnfalten und hochroten Köpfen an der Unmöglichkeit versuchen, einen von vornherein totgequetschten Ton gewaltsam wiederzubeleben. Das ist auch der Grund, warum man den klassischen Gesang oftmals nicht von seiner Karikatur unterscheiden kann.
Nutzt man aber die Zungentechnik in der von Verena Rein dargestellten Weise, muss man den Mund auch in hoher Lage niemals aufreißen, denn die jeweilige Stellung der Zunge garantiert eine größtmögliche Öffnung des Mundinnenraums. Auch dies entspricht der alten Belcanto-Regel des „a bocca chiusa“ (Vorsicht! Konservatives Sängerbild!). In der höchsten Lage wird der Mund geöffnet und nicht aufgesperrt. Die Folge ist ein absolut entspannter Gesichtsausdruck, der die Sänger beispielsweise in die Lage versetzt, das Gesicht zur schauspielerischen Darstellung zu nutzen, anstatt die ganze Zeit mit einem erstarrten Medusenblick über die Bühne zu staksen.
In Bezug auf die Vermittlung der Technik stellt man beim Betrachten des Films erfreut fest, dass Verena Rein die von ihr gelehrte Technik selbst in Perfektion beherrscht. Das ist keineswegs selbstverständlich, hat man es doch bei Gesangslehrern nicht selten mit ausgesungen Diven zu tun oder sogar mit Personen, die nicht einmal singen können und das auch noch zugeben. Ebenfalls sehr häufig begegnet man dem Phänomen, dass die Lehrer verbal etwas ganz anderes vertreten, als sie in der Praxis machen. „Belcanto“ hat sich zum Beispiel fast jeder aufs Panier geschrieben, auch wenn er schreit wie am Spieß. Darüber hinaus gibt es noch die „wissenden Sänger“, die stundenlang über Martellato- oder Macchiatotechnik dozieren können, aber selber klingen wie schlecht geölte Scharniere.
Frau Reins Umgang mit den Gesangsschülern ist vollkommen frei von Eitelkeit und Härte. In jeder Szene des Films „frägt sich’s nach der Kunst allein“. Im Gegensatz zu der megärenhaften Kapriziosität vieler Kolleginnen ist es Frau Rein erkennbar und glaubwürdig nur darum zu tun, ihr Können weiterzugeben, damit es künftige Sänger leichter haben. Da alle im Film gezeigten Schüler laut Eigenbericht schon in den ersten Gesangsstunden gespürt haben, dass sie sich auf dem richtigen Weg befinden, muss man sie nicht durch strenge Ermahnungen oder pädagogische Sperenzchen zusätzlich motivieren. Die Schüler haben aus eigener Erfahrung das berechtigte Vertrauen, ihre stimmlichen Möglichkeiten mit Hilfe dieser Technik eines Tages optimal entfalten zu können. Dies gilt unabhängig vom sogenannten Stimmfach. Was eine lyrische oder dramatische Stimme ist, kann nicht einfach a priori entschieden werden. Bekanntlich hatten es Caruso oder der gewaltige Bassbariton Rudolf Bockelmann am Anfang ihrer Karriere schwer, weil ihre Stimmen für zu dünn befunden wurden. Die Voraussetzung zur Entfaltung der stimmlichen Möglichkeiten ist für jedes Stimmfach dieselbe: der pflegliche Umgang mit dem Instrument. Wer von inkompetenten Lehrern fälschlich zur Soubrette gestempelt und beinahe zugrunde gerichtet wurde, erlebt im Unterricht mit Frau Rein möglicherweise eine stimmliche Wiederauferstehung als dunkler, voluminöser Mezzo.
Dass Frau Rein mit der Darstellung ihrer Gesangstechnik zugleich den ganzen Müll wegfegt, der sich unter dem Label „Gesangsunterricht“ verbirgt, kann man ihr gar nicht hoch genug anrechnen. „Die Befreiung des Klangs“ ist auf jeden Fall das mit Abstand Beste, was es bezüglich des klassischen Gesangsunterrichts auf dem Markt gibt. Selbst Laien, die im Chor singen, können allein vom Anschauen der DVD sehr viel lernen und sich gesanglich verbessern.
– Klaus Alfs (Bassbariton)